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Dokument Die Kathedrale und der Basar - Abschnitt 6 Revision: 1.3.2.7
Autor:  Eric S. Raymond
Formatierung:  Matthias Hagedorn
Lizenz: OPL
 

6 Aus popclient wird fetchmail

Der wirkliche Wendepunkt im Projekt kam, als Harry Hochheiser mir seinen von fetchmail unabhängigen Code für das Weiterreichen von Mail an das SMTP-Port der Klientenmaschine schickte. Ich erkannte fast augenblicklich, dass eine zuverlässige Implementation dieses Leistungsmerkmals alle anderen Modi der Zustellung fast überflüssig machen würde.

Viele Wochen lang hatte ich an fetchmail und an einer kleinen Verbesserung nach der anderen gebastelt und hatte dabei den Eindruck, dass das Schnittstellen-Design zwar leicht zu handhaben, aber nicht ganz sauber durchdacht sei -- ohne Eleganz und mit zu vielen geringfügigen Optionen, die überall heraushängten. Die Optionen für das Umleiten von abgeholter Mail in einer Mailbox-Datei oder zur Standardausgabe war mir ein besonderer Dorn im Auge, ich konnte aber nicht herausfinden, warum.

Als ich mir die Sache mit dem SMTP-Forwarding überlegte, erkannte ich das Problem. Popclient versuchte zu viele Dinge auf einmal. Er wurde entworfen und gebaut, um sowohl als Mail Transport Agent (MTA) als auch als Local Mail Delivery Agent (MDA) aufzutreten. SMTP-Forwarding würde ihn aus dem MDA-Geschäft hinausbugsieren und ihn zu einem reinen MTA machen, der Mail für die lokale Zustellung an andere Programme weiterreicht -- so wie en sendmail das tut.

Warum eigentlich, so meine selbstgestellte Frage, sollte ich mich mit der ganzen Komplexität der Konfiguration eines Mail Delivery Agent plagen oder lock-and-append für eine Mailbox aufbauen, wenn doch Port 25 fast garantiert auf jeder Plattform existiert, die TCP/IP unterstützt? Speziell wenn dies bedeutete, dass die abgeholte Mail garantiert wie gewöhnliche sender-initiated SMTP-Mail aussehen würde - was eigentlich das ist, was wir wirklich wollen.

Hier kann man einige Lektionen lernen. Die erste: Diese Idee mit dem Weiterreichen von SMTP-Mail war die lohnendste Einzelleistung, in deren Genuss ich durch bewusstes Nachahmen von Linus' Methoden kam. Diese glänzende Idee kam von einem Benutzer -- alles, was ich tun musste war, deren Auswirkungen zu verstehen.

11. Das zweitbeste nach eigenen guten Ideen ist das Erkennen von guten Ideen von Benutzern. Manchmal ist letzteres sogar das bessere.

Paradoxerweise werden Sie schnell herausfinden, dass, wenn Sie total selbstlos die ganze Wahrheit darüber offenbaren, wieviel Sie anderen Menschen verdanken, Sie die ganze Welt behandeln wird, als hätten Sie jede einzelne Erfindung höchstpersönlich gemacht und würden einfach nur die natürliche Bescheidenheit des wahren Genies zeigen. Wir haben alle gesehen, wie gut das für Linus funktionierte!

(Als ich auf der perl-Konferenz im August 1997 meine Rede hielt, saß de Larry Wall in der ersten Reihe. Als ich zur eben aufgeschriebenen Zeile kam, ereiferte er sich im gespielten Tonfall eines Predigers:

Verkünde es, Bruder, verkünde es!.

Das ganze Publikum lachte, denn jeder wusste, dass sie auch für den Erfinder von en perl funktioniert hatte.)

Nach einigen wenigen Wochen in diesem Geiste begann ich in den Genuss von ähnlichem Lob zu kommen -- nicht nur von Benutzern, sondern auch von Leuten, die von meinem Projekt erfahren hatten. Ich habe einige von den E-Mails aufgehoben; eines Tages werfe ich vielleicht noch einen Blick darauf, falls ich mich fragen sollte, ob mein Leben einen Sinn gehabt hat :-).

Es gibt hier aber zwei fundamentalere, nicht-politische Lektionen zu lernen, die für alle Arten von Design gelten.

12. Oft stammen die hervorragendsten und innovativsten Lösungen aus der Erkenntnis, dass die ganze Vorstellung vom Problem falsch war.

Ich hatte versucht, das falsche Problem zu lösen, als ich fortfuhr, popclient als einen kombinierten MTA/MDA zu entwickeln, der alle möglichen Modi der lokalen Zustellung unterstützte. Fetchmails Design musste von Grund auf neu überdacht und als reiner MTA gesehen werden, und als Teil des üblichen SMTP-sprechenden Internet-Postweges.

Nun, so kam ich zu einer Neufassung meines Problems. Klar war, dass (1) Unterstützung für SMTP-Forwarding in den generischen Treiber dazugehackt werden musste, (2) dies der Standardmodus werden musste, und (3) schließlich alle anderen Modi der Zustellung hinaus gehörten, besonders die Möglichkeit, Mail in eine Datei oder zur Standardausgabe umzuleiten.

Bei Schritt 3 zögerte ich für einige Zeit. Ich hatte Angst, alte popclient-Benutzer zu vergrämen, die von alternativen Zustellungsmechanismen abhängig waren. Theoretisch hätten sie sofort zu .forward-Dateien oder deren Non-sendmail-Äquivalenten wechseln können, praktisch aber war dieser Wechsel ein Alptraum.

Als ich mich dazu entschied, stellten sich die Vorzüge als riesig heraus. Die haarigsten Teile des Treiber-Codes verschwanden einfach. Die Konfiguration wurde radikal leichter -- kein Stöbern mehr nach der System-MDA und der Mailbox des Benutzers, keine Sorgen mehr darüber, ob das zugrunde liegende Betriebssystem das file locking unterstützt.

Auch verschwand die einzige Möglichkeit, Mail zu verlieren. Wenn man Zustellung in eine Datei spezifizierte und die Disk voll war, verschwand die Mail. Das konnte bei SMTP-Forwarding nicht mehr passieren, da der SMTP-Listener einfach kein OK gab, solange die Nachricht nicht zugestellt werden oder wenigstens für spätere Zustellung gespoolt werden konnte.

Auch der Durchsatz erhöhte sich (obwohl man das in einem einzigen Durchlauf wahrscheinlich nicht bemerken könnte). Ein weiterer, nicht unbedeutender Nutzen dieser Änderung war, dass die Manpage wesentlich simpler wurde.

Später musste ich einen benutzerspezifizierten lokalen MDA wieder zum Funktionieren bringen, um einige obskure Situationen abzudecken, die Dynamic SLIP involvierten. Ich fand aber eine viel schlichtere Methode dafür.

Die Moral der Geschichte? Zögern Sie nicht, überholte Features aufzugeben, wenn die Effektivität davon unbeeinflusst bleibt. de Antoine de Saint-Exupéry (der Pilot und Flugzeugdesigner war, wenn er nicht mit dem Schreiben von klassisch gewordenen Kinderbüchern beschäftigt war) sagte einmal:

13. "Perfektion (im Design) ist nicht erreicht, wenn es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern wenn es nichts mehr wegzunehmen gibt."

Wenn Ihr Code sowohl besser als auch einfacher wird, dann wissen Sie, dass Sie es richtig gemacht haben. Dadurch bekam fetchmail seine eigene Identität und löste sich von seinem Vorfahren popclient.

Es wurde Zeit für eine Namensänderung. Das neue Design sah mehr nach einer Entsprechung von sendmail aus als der alte popclient; beide sind MTAs, aber so wie sendmail die Zustellungen fortschickt, so fängt sie der neue popclient ein. Daher taufte ich ihn in fetchmail um.

Es gibt hier aber eine noch allgemeiner anwendbare Lektion darüber, wie  SMTP-Zustellung ein fetchmail-Feature wurde. Es ist die, dass nicht nur Debugging parallelisierbar ist -- auch die Entwicklung ist es und (in einem vielleicht überraschenden Ausmaß) auch die Erforschung des Designraumes. Wenn der Entwicklungsmodus mit sehr kurzen Iterationszyklen arbeitet, werden Entwicklung und Erweiterung zu Spezialfällen des Debuggings -- zu einer Beseitigung von Fehlern, die Auslassungen sind - Auslassungen im ursprünglichen Konzept der Software.

Sogar auf höheren Ebenen des Entwurfs kann es sehr wertvoll sein, das Denken vieler Mit-Entwickler in den Design-Raum eines Produkts ausschwärmen zu lassen. Stellen Sie sich dazu vor, wie eine Wasserpfütze einen Abfluss findet, oder noch besser, wie Ameisen Essen finden: Erforschung durch Einsickern, gefolgt von einer Diskussion, die über skalierbare Kommunikationsmittel geführt wird. Das funktioniert sehr gut; wie bei Harry Hochheiser und mir, wird einer Ihrer Späher einen riesigen Gewinn in Ihrer Reichweite entdecken, den Sie aufgrund eines vernagelten Blickfeldes nicht gesehen hatten.



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